Weißenhofsiedlung

Der Geschäftsführer der Württembergischen Arbeitsgemeinschaft des Deutschen Werkbunds, Gustaf Stotz, hatte die Idee, statt der 1927 turnusgemäß stattfindenden Baustoffausstellung des Deutschen Werkbundes, eine bewohnbare Mustersiedlung zu errichten. Verschiedene Architekten aus dem In- und Ausland sollten die Häuser und Wohnungen bauen, die künstlerische Oberleitung Mies van der Rohe übertragen werden. Der Stuttgarter Gemeinderat stimmte den Vorschlägen zu, allerdings mit der Vorstellung ganz andere Architekten verpflichtet zu haben, als sie Stotz und van der Rohe für die Siedlung vorschwebten.
Als bekannt wurde, welche Vertreter des Neuen Bauens Wohnungen und Häuser für Stuttgart planen sollten, regte sich, hauptsächlich von konservativer Seite, zum Teil heftiger Widerstand. Es gelang Stotz trotz allem das Projekt zu verteidigen und seine Durchführung zu sichern.

Werner Graeff war "Presse- und Propagandachef" der Werkbundausstellung und zusammen mit Willi Baumeister und Ludwig Mies van der Rohe auch Gestalter des Plakates.

Die Architekten der Weißenhofsiedlung:
Peter Behrens, Victor Bourgeois, Richard Döcker, Walter Gropius, Josef Frank, Ludwig Hilberseimer, Pierre Jeanneret, Le Corbusier, Ludwig Mies van der Rohe, Jacobus Johannes Pieter Oud, Hans Poelzig, Adolf Rading, Hans Scharoun, Adolf Gustav Schneck, Mart Stam, Bruno Taut, Max Taut.


Grundriss der Stuttgarter Weißenhofsiedlung
Grundriss der Weißenhofsiedlung auf dem Killesberg


Werner Graeff:

Aus den zwanziger Jahren

(...) Wir kommen nun noch auf die Weißenhofsiedlung in Stuttgart. Mies war 1926 beauftragt worden, die künstlerische Oberleitung der Werkbund-Ausstellung zu übernehmen und die Architekten auszuwählen, die in der Siedlung je einen oder mehrere Bauten errichten sollten. Ich hatte Mies gesagt, wenn es da irgendwas für mich zu tun gebe, so würde ich gern helfen (er wußte ja, was ich konnte und was nicht!). Eines Tages, im Herbst 26, rief ich ihn mal wieder an und sagte: "Wie steht es jetzt?" - "Ja", sagte er, "gut, daß Sie anrufen! Sie sind nun Propaganda- und Pressechef der Werkbundausstellung. Fahren Sie rasch hin, die Leute warten schon auf Sie." Mies schreibt nicht gern Briefe, und er hängt sich auch nicht gern ans Telefon. Wenn man sich nicht selbst an ihn wendet, so erfährt man nichts. (...)
Bürgermeister Dr. Walsmüller empfing mich sehr liebenswürdig und sagte: "Herr Graeff, bitte geben Sie Inserate nur in Stuttgarter und württembergischen Zeitungen auf, machen Sie sonst keine Propaganda - von außen kommt ja doch niemand." Ich war ganz verblüfft und sagte "Wieso?! Im Gegenteil! Hier kommen alle ganz von selbst! Aber ich hole Ihnen die Leute auch aus Australien und Südamerika (Und nebenbei: die kamen.) Er hat sicher geglaubt, ich sei irre, und ich dachte: was ist wohl mit dem los?! Weiß er nicht, daß das eine bedeutende Sache wird? - Nein: er wußte es wirklich nicht! Warum nicht? Das stellte sich erst später heraus.
Ich verfaßte also fleißig Pressenotizen über die in Vorbereitung befindliche Ausstellung und schickte sie an alle möglichen Zeitungen. Postwendend kamen Briefe, wir möchten inserieren, dann würde die Redaktion vielleicht irgendwann freundlicherweise auch einmal auf die Sache Bezug nehmen. So hatte das also keinen Zweck. Ich entschloß mich, den Weg über das Ausland zu bahnen. Einige Leute im Ausland, von denen mir bekannt war, daß Sie sich für unsere Sache interessieren, bat ich, darüber etwas zu veröffentlichen, weil wir "Auslandsstimmen" nötig hätten.
Jetzt aber: was kam da an? Aus Bukarest ein nach Petroleum stinkendes Zeitungsblatt (vermutlich war gerade die Maschine gewaschen worden, der Druck war stellenweise verlaufen). Wir gaben es einem Übersetzer. Diesem Artikel zufolge wurde halb Stuttgart abgerissen und völlig neu wieder aufgebaut. (Davon war natürlich in Wahrheit keine Rede - wir bauten eine kleine Siedlung, mehr nicht. Es wurde auch nichts abgerissen, vorher stand da gar nichts.)
Erst dachte ich: das ist ja purer Blödsinn; wir können das nicht brauchen. Aber ein Satz war da, mit dem konnte ich etwas anfangen. Es hieß: "Diese weisen Stadtväter von Stuttgart, weit vorausschauende Männer, in ihrem fortschrittlichen Sinn, geben der Welt ein Beispiel!" Ausrufungszeichen! Ah, denke ich, das freut die Stuttgarter vielleicht. Das habe ich in die Auslandspresseschau, die ich drucken ließ, an die Spitze gesetzt. Dazu kam noch der ein oder andere Satz, der Rest war wahnsinnig übertrieben und mußte ausfallen. (Nachher habe ich erfahren, der Verfasser hatte selbst einen Stadtveränderungsplan für Bukarest aufgestellt, den er nicht durchsetzen konnte, und er wollte seinen Landsleuten mal erzählen, wie fortschrittlich man andernorts bereits sei...) "Die größten Meister der Neuzeit arbeiten mit", hieß es am Schluß. Nun, das war ganz meine Meinung. Auch dieser Satz zierte meine Übersicht. Und dann folgte Vernünftiges, ein ausführlicher Artikel aus der "Neuen Züricher Zeitung", von Giedion verfaßt. Dr. Giedion ist ja später sehr bekannt geworden als Architekturhistoriker. Was er schrieb, hatte wirklich Hand und Fuß. Schließlich kam etwas aus dem Rotterdamschen Courant, und was da sonst noch vorlag. Ich ließ diese Auszüge drucken und sandte sie mit einem Begleitschreiben an die deutsche Presse: inserieren würden wir nicht und könnten wir nicht. Hier aber handle es sich um eine kulturelle Tat ersten Ranges, und sie dürften ihren Lesern das nicht vorenthalten.
Von da an haben sie alles gebracht, da das Ausland schon so begeistert über die kommende Ausstellung berichtete.


Häuser in der Stuttgarter Weißenhofsiedlung
Häuser in der Weißenhofsiedlung. Zeitgenössische Aufnahme


Jetzt kam für mich eine große Überraschung. Der eigentliche Initiator der Ausstellung, nämlich der Geschäftsführer des Werkbundes Gustaf Stotz, betrat zufällig mein Büro, als ich die Auslandsstimmen verfrachtete. Ich sagte ihm: Ich habe Ärger mit den Redaktionen; die wollen unsere Notizen nur bringen, wenn wir inserieren. Jetzt versuche ich's mit dieser Sache hier. Stotz las den ersten Satz und sagte: "Haben Sie davon noch 50 Exemplare? Kann ich die gleich haben?" - "Gern." - "Geben Sie schnell her. Gleich ist die Sitzung im Gemeinderat, wo beschlossen werden soll, ob man überhaupt noch Geld für die Weißenhofsiedlung und die Weiterarbeit an der Ausstellung bewilligen wird."
Denn inzwischen waren emsige Gegner aufgetreten. Es stellte sich heraus, daß Stotz bei der Aufstellung seines Plans sich gehütet hatte, den Verantwortlichen im Stadtparlament Aufschluß darüber zu geben, wie radikal das Experiment "Weißenhofsiedlung" sein werde. Man hatte eigentlich keine Ahnung, wer Mies, Gropius, Oud, Stam, Corbusier, Poelzig, Hilberseimer, Scharoun und die anderen waren. Als die Sache bekannter wurde, haben die Gegner des "Neuen Bauens" Abbildungen früherer Bauten der Genannten gesammelt und die Leute von der Stadt gefragt: "Wollt ihr eigentlich sowas?" - "Nein, gar nicht. Wieso?" - "Ja, sowas wird jetzt da oben gebaut!" Die Bombe war geplatzt. Man sprach davon, alles abzublasen.
Gustaf Stotz legte jedem der Gemeinderäte vor der entscheidenden Sitzung die Auslandsstimmen auf den Tisch. "Diese weisen Stadtväter von Stuttgart, weit vorausschauende Männer, in ihrem fortschrittlichen Sinn, geben der Welt ein Beispiel!" ... Kurz und gut: Von den Deutschnationalen bis zu den Kommunisten (Nationalsozialisten saßen damals noch nicht im Stadtparlament) war man sich einig, daß weitergearbeitet werden sollte. Das Geld wurde ohne Gegenstimme bewilligt. Man hatte es nie bereuen müssen.

aus: "werk und zeit", Nr. 5, 1968



Texte Werner Graeffs zu diesem Thema


© 2001-2023 Ursula Graeff-Hirsch, Bernd Eichhorn