Die "G"-Gruppe

Werner Graeff:

Über die sogenannte »G-Gruppe«

(...) Anfangs der zwanziger Jahre galt ja Berlin (mit Einschluß der nahen Bauhaus-Zentren Weimar und Dessau) als die künstlerisch lebendigste und fortschrittlichste Stadt Europas. Berlin zog zumindest für die Dauer der Inflationszeit Avantgardisten aus aller Welt an: zu kurzem Besuch oder zu langem Aufenthalt.
Zentren der Zusammenkünfte waren verschiedene Ateliers, vorwiegend aber das von Hans Richter, der seit vielen Jahren einen großen Bekanntenkreis unter den interessantesten Künstlern aller Sparten hatte: van Doesburg, gleichermaßen mit aller Welt bekannt, war damals nur zeitweise in Berlin; in Mies van der Rohes Atelier ging es natürlich bedeutend ruhiger zu.
Die Zusammenkünfte fanden nicht unter dem Zeichen einer organisierten Gruppe statt. Auch gab die Ablehnung des überholten Expressionismus allein natürlich noch keinen genügenden Zusammenhalt. Ich entsinne mich, daß einmal die Frage entworfen wurde: "Was eint uns eigentlich?" Mehrere waren der Meinung, das sei kaum zu sagen. Da ich der Jüngste war (21), zögerte ich keinen Moment zu behaupten: "Sehr einfach! Uns eint die Fähigkeit, elementar zu denken und zu gestalten!" - was allgemein akzeptiert wurde. Heute, nach vierzig Jahren, würde ich statt "die Fähigkeit" vielleicht bescheidener "das Streben" sagen - sonst aber den Satz bestehen lassen.

Bei solchen Zusammenkünften wurden auch Veröffentlichungen geplant, für die allerdings weder genügend Leser, noch Verleger, noch überhaupt Geldmittel zur Verfügung standen. Nichtsdestoweniger gründeten Hans Richter - der als Herausgeber zeichnete - und ich 1923 die Zeitschrift für Elementare Gestaltung, abgekürzt "G" genannt. Unsere Hauptmitarbeiter waren Mies van der Rohe, Ludwig Hilberseimer, Raoul Hausmann, El Lissitzky, Theo van Doesburg, Hans Arp, Kurt Schwitters. Auch Piet Mondrian, Viking Eggeling, Naum Gabo und Antoine Pevsner, Ernst Schön, George Grosz und John Heartfield, Tristan Tzara und Man Ray lieferten Beiträge - fast ausnahmslos alte Bekannte von Hans Richter. Andere Künstler wären zweifellos hinzugekommen, wenn "G" länger bestanden hätte. Denn "G" hatte nur ein unstetes, kurzes Leben. Die beiden ersten Nummern erschienen im Juli und September 1923 im Zeitungsformat, vierseitig. Leider ließen wir uns 1924 beschwatzen, zu einem Magazinformat und schwerem Kunstdruckpapier überzugehen und einen Annoncen-Acquisiteur zu beschäftigen. Das ging weit über unsere Kräfte!

Es ist vielleicht interessant zu hören, daß es uns noch Mitte 1924 in Berlin nicht gelang, einen Drucker zu finden, der genügend Grotesk-Schrift für ein ganzes Heft vorrätig hatte. Nach unserer Ansicht war aber allein die Grotesk "elementar"; denn nur sie zeigte offen, daß sie konstruiert ist, während die üblichen Druckschriften, wiewohl konstruiert, Schreibschriftcharakter vortäuschen. (Heute gibt es wohl in der gesamten westlichen Welt nur wenige Buchdruckereien, die nicht beliebig viel Grotesk zur Verfügung haben.) 1924 also mußte Mies - er hatte damals geringe, aber von uns doch die größten Einnahmen - die Lettern für das gesamte Heft kaufen.
"G", Heft 3, erschien im Juli 1924, erhielt auch ein paar Dutzend Abonnenten - und verschwand. Der unermüdliche Richter brachte in den folgenden Jahren nochmals zwei weitere Nummern heraus, die sich vorwiegend mit Filmproblemen beschäftigten.
Die Zeitschrift "G" also war alles andere als ein gutes Geschäft. Aber ihr Einfluß war nicht so ganz gering. Hatten wir nur wenige zahlende Bezieher, so schickten wir doch jeweils rund tausend Exemplare an Künstler, Kritiker, Kunst-Bibliotheken, Sammler, Fabrikanten.



Titelseite der ersten Ausgabe von G, Juli 1923


Ich darf daran erinnern, daß es vor dem Erscheinen "G"s kaum eine Bauzeitschrift gab, die etwa Mies van der Rohes elementare Entwürfe bringen wollte, keine Filmzeitschrift, die Richters oder Eggelings Ideen unterstützte, keine Literaturzeitschrift, die Lautgedichte von Schwitters oder Hausmann oder Arps Arpiaden bringen mochte, keine Fotoschrift, die etwas von Man Rays "Rayograms" hielt. Was ich selbst 1923 und 1924 im Hinblick auf die damals schon zu erwartende Atomtechnik schrieb - Albert Einstein hatte seine grundlegenden Eröffnungen schon gemacht -,hätte gewiß keine der nüchtern redigierten großen technischen Zeitschriften gedruckt - aber "G", "De Stijl", "Ma", "Merz" und andere Avantgarde-Blätter brachten unsere Dinge. Was andere als bloße Phantasiegebilde abgetan hätten, wurde von den Redakteuren der Avantgarde-Zeitschriften als durchaus diskutabel, real, oft als wegweisend erkannt. Wir warfen eine Saat aus, die, sehr langsam, sehr bescheiden fruchtete.
Hans Richter zum Beispiel konnte für die Spielfilm-Industrie 1927-28 wenigstens schon einige "Vorspannfilme" herstellen, dann ein paar Reklamefilme, schließlich 1928 und 1929 erste Tonfilme mit Musik von Paul Hindemith und von Walter Gronostay. Mies van der Rohe kam endlich zu seinen ersten radikalen Verwirklichungen, wurde Vorsitzender des Deutschen Werkbundes und schuf 1927 die Stuttgarter "Weißenhofsiedlung" (ich selbst war Propaganda- und Pressechef der Ausstellung und gab im Auftrag des Werkbundes zwei Bücher darüber heraus). Haus Tugendhat in Brünn und der Barcelona-Pavillon folgten. Mies übernahm die Leitung des "Bauhauses" und übertrug Hilberseimer eine Professur für Städtebau - bis die Nationalsozialisten an die Macht kamen, das Bauhaus schlossen, den Werkbund verboten und die ehemaligen Mitarbeiter "G"s ins Exil jagten.

Heute, rund vierzig Jahre nach ihrem Entstehen, ist von einer "G"-Gruppe die Rede. Man darf sich dabei ebensowenig wie bei der ihr verwandten "Stijl"-Gruppe regelrechte Künstlervereinigungen mit festem Programm, Beitritt und Beitrag, Vorstand und dergleichen vorstellen. Bestimmte Gedanken liegen in der Luft. Gelegentlich formuliert, ziehen sie verwandte Geister an. Es entstehen Diskussionen, Arbeitsgruppen, auch Gegensätze, Spaltungen - und kurzlebige Zeitschriften wie "G".

Will man die tätigsten Mitarbeiter "G"s als "G-Gruppe" bezeichnen, so wären diese, in alphabetischer Ordnung, nach meiner Erinnerung: Hans Arp, Theo van Doesburg, Werner Graeff, Raoul Hausmann, Ludwig Hilberseimer, El Lissitzky, Mies van der Rohe, Hans Richter, Kurt Schwitters. Man könnte vielleicht C. van Eesteren, Naum Gabo und Man Ray hinzufügen. -
Doesburg, Lissitzky und Schwitters leben nicht mehr. Zu den Toten des weiteren Mitarbeiter- und Freundeskreises gehören Adolf Behne, Max Burchartz, Viking Eggeling, George Grosz, Piet Mondrian, Sasha Stone.
Über alle Welt zerstreut haben der Architekt Mies van der Rohe, die Städtebauer Ludwig Hilberseimer und Cornelis van Eesteren, die Maler Hans Richter und Werner Graeff noch bis vor wenigen Jahren unterrichtet; sie alle arbeiten weiter, ebenso wie Hans Arp, Tristan Tzara, Raoul Hausmann, Man Ray, Naum Gabo und Antoine Pevsner. Mehrere der Genannten werden schon zu den Klassikern gerechnet. Alle fühlen sich nach wie vor "bei der Avantgarde".

Werner Graeff
aus: "werk und zeit" Nr. 11, 1962



Titelseite G - Zeitschrift für elementare Gestaltung, Nr. 3, Juni 1924


Hans Richter, Werner Graeff:

Leitartikel

Der Gegensatz zwischen der neuen Gestaltung (in der Kunst) und in der gestrigen Kunst ist prinzipiell. Wir wollen ihn nicht überbrücken, sondern vertiefen.
Der Überdruß an der alten Kunsterei und die Tatsache vitaler menschlicher Interessen bilden die Voraussetzung einer neuen Gestaltung.
Unsere "Gefühle" hindern uns daran, das für uns wahrhaft Wesentliche zu sehen. Vorurteilslosigkeit, auch den heiligsten Traditionen gegenüber, ist notwendig.
Die Tendenz der Kunsterei wie des Lebens heute ist individualistisch und gefühlsmäßig.
Methodisch und unpersönlich zu handeln ist heute ein Kulturproblem. Die Kunst kämpft seit zwei Generationen darum (Überwindung klassischen Vorurteils, des Humanismus, des Mittelalters).
Die Grundforderung elementarer Gestaltung ist Ökonomie.
Reines Verhältnis von Kraft und Material.
Das bedingt elementare Mittel, völlige Beherrschung der Mittel.
Elementare Ordnung, Gesetzmäßigkeit.
In Frankreich, dem Land der künstlerischen Tradition, kam man zur Auflösung des Bildgegenstandes; in Holland ("Stijl") und in Rußland (Konstruktivisten und Malevics-Tatlin) zur praktischen Arbeit - in Deutschland haben die letzten Konsequenzen bisher offenbar nur die Meinung erweckt, es handle sich wieder einmal um einen neuen Ismus, und zwar um einen von seltener Barbarei und Roheit - nämlich was das Gefühlsmäßige anbetrifft.
Es scheint uns ganz unmöglich, daß es nicht auch in Deutschland mehr Künstler gibt, die aus innerer Notwendigkeit den Kunstbetrieb aufgeben, um sich praktisch und theoretisch grundsätzlichen Aufgaben zu widmen.
Wir haben zwar hier vielleicht nicht, wie in Holland, große Baumöglichkeiten, oder wie in Rußland Möglichkeiten für die Ausführung aller modernen Dinge überhaupt, aber bisher ist ja hier auch nicht einmal die Forderung zur Grundsätzlichkeit gestellt worden. Diese Forderung muß erhoben werden.
Jede Arbeit besteht durch eine andere. Niemand kann heute etwas leisten, ohne von seinem Nachbarn oder Feinde zu lernen.
Subjektive Einstellung ist in allen Lebensgebieten ruinös und die eigentliche Ursache aller Katastrophen - - in der Kunst auch. Die neuen Künstler handeln kollektiv.
Wir werden zunächst theoretisch und praktisch auseinandersetzen, was unter elementarer Gestaltung, Gesetzmäßigkeit, Kollektivität, Aufgaben etc. zu verstehen ist; und das durch unsere eigenen Arbeiten und die ausländischer Kameraden belegen.
Unsere Aufgabe ist destruktiver und konstruktiver Natur.
Das klassische Vorurteil, die Grundlage der vergehenden Kunst, muß zerstört werden.
Dann bilden sich neue Neigungen und Bedürfnisse.
Die elementare Aufgabe des schöpferischen Menschen heißt nicht nur:
den Neigungen und Bedürfnissen der Zeit entsprechen, sondern vor allem: neue Neigungen und Bedürfnisse schaffen.
Es handelt sich also nicht um eine neue Richtung, die wir vertreten. Wir wenden uns auch nicht an Kunstliebhaber, sondern allgemein an Menschen, die Grundsätzliches lieben, in der Kunst, wie in allen Zusammenhängen des Lebens.
Von solchen können wir erwarten verstanden zu werden in dem Willen, das Problem der Kunst nicht vom ästhetisierenden, sondern vom allgemein kulturellen Standpunkt aus zu lösen.
Wir brauchen keine Schönheit, die als Schnörkel an unserem (exakt orientierten) Sein klebt, sondern innere Ordnung unseres Seins. Wer die Zusammenhänge bildet, wer die Mittel des Gestaltens vertieft und organisiert, schafft neues Leben und Überfluß

aus: "G - Material zur elementaren Gestaltung", Nr. 1, Juli 1923



Texte Werner Graeffs zu diesem Thema


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